Oliver Gerlinger geht es gut. Sehr gut sogar, wie er bei einem Glas Wasser in der Brugger Bar Katarakt sagt. Er wirkt gelöst, nimmt sich jeweils genug Zeit, um die Fragen der Journalistin zu beantworten. Seit seinem Rücktritt als Gemeindeammann von Schinznach-Bad aus gesundheitlichen Gründen hat er sich komplett umorientiert.
Damals, im Frühling 2017, trat er per sofort zurück von seinem Amt – nach sieben Jahren. Gerlinger kämpfte mit gesundheitlichen Beschwerden, stand kurz vor einem Burnout. Der Rücktritt war eine Notbremse. Rückblickend sagt er: «Es war eine schwierige Zeit. Der Rücktritt war ein Vernunfts- und nicht ein Herzentscheid. Ich wusste, dass ich es machen muss, ansonsten wäre es zu einem Burnout gekommen.» Der Entscheid sei ihm schwergefallen, er haderte mit sich selber, weil er das Amt sehr gerne ausgeführt hatte. «Mit jedem Tag hatte ich aber mehr Gewissheit, dass der Entscheid richtig war», sagt Gerlinger. Die Erleichterung sei gross gewesen, auch wenn er gerne noch einige Dinge erledigt hätte.
Ein solches «Ding» wäre die Fusion von Brugg und Schinznach-Bad gewesen, die damals vorbereitet wurde. Gerlinger war einer der Hauptinitianten, ist als Gemeindeammann aktiv auf die Stadt Brugg zugegangen. Dass er ausgerechnet mitten in diesem Prozess ausgestiegen ist, konnten ein paar wenige Kritiker nicht nachvollziehen. «Leider wurde ich nie darauf angesprochen von diesen Leuten», sagt Gerlinger. «Dafür habe ich viele unterstützende Worte und Schreiben erhalten.» Sogar Fusionsgegner hätten ihr Bedauern über seinen Rücktritt ausgedrückt.
Während des Fusionsprozesses habe er sich nur einmal noch mit einem Leserbrief eingemischt. Als dann die Fusion am 4. März dieses Jahres an der Urne in beiden Gemeinden knapp angenommen wurde, feierte Gerlinger zu Hause.

Schritt in die Selbstständigkeit

Nach seinem Rücktritt auf politischer Ebene orientierte sich Gerlinger auch beruflich neu. Er wagte den Schritt in die Selbstständigkeit. Am 1. Juni ging er mit seiner Firma «Mesavita» an den Start. Tätig ist die Ein-Mann-Firma in den Bereichen Consulting, Workshop und Coaching für die Privatwirtschaft, aber auch die öffentliche Hand. «Der Entscheid zu kündigen und selbstständig zu werden, war wie ein Befreiungsschlag», sagt Gerlinger. «Es ist einfach der richtige Weg für mich.»
Die Selbstständigkeit bringe ihm mehr Befriedigung, obwohl es ein gutes Stück Pioniergeist und Mut brauche, «mal den Kopf anzuschlagen». Ab dem ersten Tag hat er ein Mandat, was eine gewisse Sicherheit mitbringt. In seine Arbeit einfliessen lässt Gerlinger auch seine Erfahrungen als Gemeindeammann. Ein Tätigkeitsgebiet ist für ihn die Unterstützung von Gemeindeverwaltungen und Milizpolitikern. «Die Gemeindelandschaft interessiert mich weiterhin und in der Milizpolitik ist es wichtig, dass man sich austauschen kann», sagt er. «Als Milizpolitiker macht man alles selber, von der Rede bis zur Strategie. Aber ich selber wäre auch froh gewesen, wenn vielleicht mal ein Externer unterstützend anwesend gewesen wäre.» Zudem sei es einfacher, als Externer Kritik zu üben.
An seinem neuen Job schätze er, dass er neue Möglichkeiten habe, sich einzubringen, mit Menschen den Dialog zu führen, Erfahrungen auszutauschen. Projektarbeit kennt Gerlinger bereits aus seiner Tätigkeit in der Privatwirtschaft. Im November beginnt er zudem die zweijährige Ausbildung zum Coach. Durchaus kann er sich vorstellen, Gemeindefusionen zu begleiten.

Der Mensch als Rohstoff

Im Zentrum seiner Tätigkeit steht die Rückkehr zu mehr Menschlichkeit in den Firmen. «Der Mitarbeiter soll im Mittelpunkt stehen», ist Gerlinger überzeugt. «Es soll möglich sein, Mitarbeitern mehr Verantwortung zu übergeben und sie nicht ständig kontrollieren zu wollen.» Motivierte Mitarbeitern würden am Schluss einem Unternehmen mehr bringen als solche, die Dienst nach Vorschrift machen. «In vielen Mitarbeitern steckt viel mehr Potenzial», findet Gerlinger. «Wenn man sich nicht frei entfalten kann, dann ist das frustrierend und braucht viel Energie. Das ist auch der Wirtschaftlichkeit eines Unternehmens nicht zuträglich.» Er beobachte, dass in der heutigen Wirtschaft der Mensch zum Rohstoff verkommen ist, der einfach wieder ersetzt werden kann. «Das ist falsch.»
Dass Gerlinger der persönliche Kontakt immer wichtig war, bewies er bereits als Gemeindeammann, als er jeweils Weihnachtskarten handgeschrieben versendete. Und als er seine Firma gründete, schrieb er erneut von Hand eine grosse Zahl Karten, um seine Kontakte über seine Pläne zu informieren.
Damit er selber nicht wieder an den Punkt kommt, an dem es gesundheitlich nicht mehr geht, nimmt Oliver Gerlinger heute sein Umfeld ernster. Er lebe bewusster, nehme sich Zeit für jene Dinge, die ihm wichtig sind, lasse den Fünfer mal gerade sein. Er pflegt seine Familie und den Freundeskreis. «Das habe ich jahrelang vernachlässigt, was mir sehr leidtut.»
Ein politisches Amt kommt für ihn künftig nicht mehr infrage, obwohl er es «extrem gerne» gemacht habe. Er könne heute seinen Dienst an der Gesellschaft anders leisten. Arbeit in Vereinen oder Freiwilligenarbeit wie das Putzen der Aareufer sei ebenso viel wert. «Ich wünsche mir», so Gerlinger, «mehr Wertschätzung für politische Arbeit und Freiwilligenarbeit sowie mehr Dialog untereinander ohne böses Geschwätz.»

Quelle: https://www.aargauerzeitung.ch/aargau/brugg/kurz-vor-dem-burnout-wie-ein-ehemaliger-gemeinderat-sein-leben-umkrempelte-133518737