Mittwoch, 18. September 2019

Lassen Sie sich noch hetzen? Oder stellen Sie sich schon quer? Stress ist kein Naturgesetz


Die einen klagen über die zunehmende Arbeitslast, die anderen brüsten sich damit. Am Arbeitsplatz aber ist nicht Heroismus, sondern Kreativität gefordert.

Einer hat den gordischen Knoten zerhauen. Und wie es sich gehört, tat er es mit einem tüchtigen Schlag. Das machte ihn, so ganz nebenbei, auch noch zu einem reichen Mann. Er heisst Timothy (oder Tim) Ferriss, er ist, was sonst, Amerikaner, Unternehmer und Autor, und er weiss die Antwort auf unsere Eine-Million-Dollar-Frage: Der perfekte Job sei derjenige, sagt er, «der am wenigsten Zeit beansprucht». Teufel, darauf hätten wir auch kommen können und müssen. Wir hätten ausgesorgt für den Rest des Lebens. In jeder Hinsicht.
Tim Ferriss also schrieb ein Buch, das ist nun über zehn Jahre her. So lange schon hätten wir es besser wissen können. Aber seine Heilslehre hat bisher keine Schule gemacht, obwohl das Buch ein Bestseller war, in Amerika, wohlverstanden, und man kann sich ja ausrechnen, was das bedeutet. Dabei hätte man das Buch noch nicht einmal lesen müssen, denn sein Titel reichte schon, um Bescheid zu wissen: «The 4-Hour Workweek» oder «Die 4-Stunden-Woche».
Das klingt verheissungsvoll und leuchtet ein wie kaum einmal etwas. Natürlich wäre keinem Turbosozialisten Vergleichbares eingefallen. Nur ein mit allen Wassern des Kapitalismus gewaschener Jungspund (Ferriss war gerade dreissig, als das Buch erschien) konnte sich eine so naheliegend verrückte Idee einfallen lassen. Der Haken daran: Sie wird nicht funktionieren. Jedenfalls nicht so geschmiert, wie sich das Buch verkauft hat. Aber Ferriss kann das egal sein. Er ist für Effizienz, nicht für Dummheit zuständig.

Armer Hockey-Torhüter

Neulich konnte man übrigens auch im Sportteil dieser Zeitung etwas Erstaunliches lesen. Der Eishockey-Torhüter Jonas Hiller gab ein Interview und sprach über seinen Beruf (keiner von der Art, wie sie Ferriss empfiehlt). Hiller spielte immerhin neun Jahre in der nordamerikanischen Profiliga NHL und beginnt gerade mit dem EHC Biel die letzte Saison vor seinem Rücktritt. Nun erzählte er, was sich in all den Jahren verändert habe: «Das Spiel ist so viel schneller geworden, dass es mental für Torhüter anspruchsvoller geworden ist: Es gibt keine ruhige Sekunde mehr.»
Erstaunlich daran sind zwei Sachen: Wer gelegentlich Eishockey schaut, kann einerseits kaum glauben, dass dieses Spiel überhaupt noch schneller werden konnte. Es war immer schon schnell, auch als wir jung waren. Wir kamen gar nicht nach mit Hinschauen, und kaum einmal sahen wir den Puck, es sei denn in der Zeitlupe. Und anderseits: Wir hätten darauf gewettet, dass ein Torhüter auch einmal eine ruhige Sekunde hat. Aber einer wie Hiller muss es ja wissen.
Was würde Tim Ferriss dazu sagen? Ganz klar: Leute, macht das Spiel effizienter! Und er ginge hin und schriebe ein Buch: «The 4-Minute Game». Hiller hätte dann tatsächlich keine ruhige Sekunde mehr. Das Ganze wäre aber auch rasch ausgestanden. Der Haken daran? Siehe oben.
Aber Hiller und seine Kollegen auf dem Eis sind keine Ausnahmeerscheinungen. Wie ihnen geht es den meisten Menschen heutzutage, auch wenn sie nicht Hockey spielen. Ob sie an der Migros-Kasse arbeiten oder im Backoffice einer Bank das Geld zählen, ob sie Mauern hochziehen oder künstliche Hüftgelenke einpflanzen, die Erfahrung ist immer die gleiche: Es gibt keine ruhige Sekunde mehr. Und immer sollte man noch besser, noch flexibler, noch biegsamer werden.
Und das ist nur die berufliche Seite der Sache. Im Privaten ist alles noch viel schlimmer, seit das moderne Subjekt sich zum Zentralgestirn des Universums erhoben und die Selbstverwirklichung zum einzig verbliebenen Dogma erklärt hat. Der im Beruf stets an der Grenze der Leistungsbereitschaft oder Leistungsfähigkeit operierende Mensch lernt im Privatleben erst richtig, was Überforderung heisst. Wir sind doch mit uns selbst am meisten gestresst. Die Selbstverwirklichungsattitüde war aber auch das Dümmste, was wir uns haben einfallen lassen.
Denn immer bleibt der Mensch hinter dem Idealbild zurück, dem er nacheifert. Nie ist er glücklich genug, kaum einmal ist er so richtig zufrieden mit sich, fortwährend mäkelt er an sich herum (wenn es nicht gerade die anderen tun), alles an ihm könnte besser, schöner, strahlender sein. Das fordert pausenlos nach Optimierung und also Arbeit am Selbst. Keine ruhige Sekunde auch hier.

Der Mensch im Weltmaschinenraum

Nun tritt freilich etwas Überraschendes ein. Im Privaten wächst die Widerstandsfähigkeit – oder Resilienz, um ein Modewort der höheren Lifestyle-Branche zu verwenden. Da lässt man sich nicht so leicht aus der Ruhe bringen. Wäre ja gelacht, wenn man das bisschen Arbeit am Selbst nicht auf sich zu nehmen bereit wäre.
Im Beruflichen liegt die Belastungstoleranz deutlich tiefer. Noch nicht einmal pubertierende Kinder können arbeitende Väter und Mütter im gleichen Mass quälen wie tyrannische Vorgesetzte, Dauerhektik oder nervige Untergebene. So etwas lässt man sich doch nicht bieten! Und wer keine Wahl hat, jammert nach Kräften.
Trotzdem bleibt unbestritten, dass Stress am Arbeitsplatz zugenommen hat, und zwar umso mehr, als gleichzeitig Beständigkeit und Gewissheiten schwinden. Nicht allein die Beschleunigung der Prozesse, sondern vor allem ein beschleunigter Wandel verlangt heute den Angestellten ein ungewöhnliches Mass an Flexibilität, gedanklicher Beweglichkeit und Anpassungsfähigkeit ab.
Massive physische und psychische Symptome der Überforderung gibt es nicht erst, seit dafür der Begriff Burnout geläufig geworden ist. Das ganze 20. Jahrhundert galt als Zeitalter der Neurasthenie – der epochale Zentralbegriff für alle Formen sogenannter Nervenschwäche. Mit der Umwandlung der Welt in einen grossen Maschinenraum zog der Geschwindigkeitsrausch auch die seelischen Dispositionen in Mitleidenschaft.
Heute suchen Stressgeplagte bei Ratgebern und Quacksalbern bis hin zu Leuten vom Schlage eines Tim Ferriss Zuflucht und lassen sich bereitwillig an der Nase herumführen. Oder sie lernen in Kursen für Achtsamkeit, «mindfulness» im Jargon der Lebenskunstberater, auf innere Stimmen zu hören. Das hilft manchmal ein wenig, häufig aber kaum, kostet jedoch zuverlässig umso mehr.
All das lindert erstens nur gerade die individuellen Symptome, ohne zum Kern der Sache zu gelangen. Und es hat zweitens die vielleicht sogar fatale Folge, dass der solcherart Therapierte lediglich zur noch effizienteren Arbeitskraftverausgabung angeleitet wird. Das verlängert bestenfalls die Brenndauer der inneren Kerze. Es verzögert ihr Ausbrennen, ohne es zu verhindern.

Neben den Schuhen stehen

Wenn der arbeitende Mensch (und vermutlich erst recht der Freizeitmensch) in diesen Optimierungswettlauf einsteigt, hat er schon verloren. Denn immer ist der Mensch in seiner Unvollkommenheit und mit seiner Sehnsucht nach Beständigkeit und Dauer der Sand im Getriebe der Weltmaschine. Je schneller er aber im Hamsterrad läuft, umso flotter drehen auch die Räder.
Das heisst in der Konsequenz, dass paradoxerweise da der Widerstand gegen Überforderung schwindet, wo die Widerstandskraft (im Sinne von Resilienz) zunimmt. Wer auch sinnlosem Druck gewachsen ist, wird ihn nicht brechen, bis er unter dem Druck am Ende doch einknickt. Auch wenn unser heroisches Zeitalter dazu neigt, Dauerstress als Wachstumstreiber und Distinktionsfaktoren zu nobilitieren, so sind sie doch in der Regel eine Folge von Missmanagement und unzureichender Planung.
Solche Fehleinschätzungen setzen sich dort fort, wo noch immer zur Kur und Therapie geschickt wird, wer von dem Räderwerk als nicht mehr tauglich oder fit erachtet und ausgespuckt wird. Besser wäre es, das Räderwerk seinerseits würde überholt und auf seine Tauglichkeit hin geprüft.
Bevor man also eines Tages unversehens und ungewollt neben den Schuhen steht, sollte man beizeiten selber zur Tat schreiten. Und aus ihnen heraustreten. Ostentativ. Es reicht ja bereits, gelegentlich einen Schritt zur Seite zu gehen, innezuhalten und die ratternde Betriebsamkeit einmal von aussen zu betrachten. Das befreit doch schlagartig die Denkwege und die Sinnesorgane. Augenblicklich sieht man hundert Dinge, die zu ändern wären. Dumpfer Heroismus verwandelt sich in Kreativität.
Wenn einer ein paar naheliegende und vielleicht unbequeme Fragen stellt, gerät die surrende Maschinerie ja nicht gleich ernsthaft ins Stocken. Aber der Mensch gewinnt im Zusammenspiel mit ihr etwas Autonomie zurück, zu ihrer beider Vorteil. Schliesslich kann es sich eine Gesellschaft doch dauerhaft gar nicht leisten, nicht auch auf Leute zu hören, die bisweilen, ob aus freien Stücken oder nicht, neben den Schuhen stehen