Sonntag, 28. April 2019

„Phönix“ hilft Ausgebrannten aus der Asche


Eine Selbsthilfegruppe soll Burnout-Patienten aus der Krise helfen. Überlastung und Mobbing sind häufige Ursachen.


Uwe Henschel weiß, wie es ist, wenn man nicht mehr kann. 40 Jahre lang bekleidete er eine leitende Position bei der Firma Hänsel Textil. Die letzten 33 Jahre sei er keinen einzigen Tag krank geschrieben gewesen, berichtet er. Dann kam die Insolvenz, die Transfergesellschaft und nach fünf Monaten – eigentlich „ein großes Glück“ – ein neuer Job mit vergleichbarer Tätigkeit.
Nach vier Jahrzehnten ist der neue Betrieb eine große Umstellung, auch die längeren Arbeitszeiten traut er sich zu: „Es ging direkt mit zwölf Stunden am Tag los“. Dazu kommen noch Bereitschaftsdienste am Wochenende. Uwe Henschel kann nicht mehr abschalten, spürt die Überlastung, der Stress frisst ihn innerlich auf. Schwäche zeigen kommt für ihn aber nicht in Frage, auch körperliche Symptome wie Tinnitus ignoriert er: „Ich wollte es mir selbst beweisen“, sagt er rückblickend.
Erst als ihm beim Autofahren schwarz vor Augen wird, akzeptiert er die Realität. „Ich habe es gerade noch geschafft, rechts ranzufahren“, erinnert er sich und weiß genau, dass die Sache anders hätte ausgehen können. Uwe Henschel meldet sich nach Jahrzehnten zum ersten Mal krank, jetzt aber auf unbestimmte Zeit. Diagnose: Burn-out. Das war im Oktober 2017.
Als gesund bezeichnet er sich heute nicht, aber im Vergleich zu damals gehe es ihm besser. Geholfen haben eine Therapie und eine Reha. Darüber hat er Bernd Schartau kennengelernt, der seit 2015 als Reha-Berater bei der IKK classic arbeitet. Fälle wie Uwe Henschel kennt er viele: „Von der Reinigungskraft bis zum Geschäftsführer ist alles dabei.“ Weil er von den Betroffenen weiß, dass sie auch nach einer Reha oft noch lange mit der Krankheit zu kämpfen haben und die Wartezeiten für Therapieplätze lang sein können, hat er einige von ihnen zusammengeführt, zur Selbsthilfegruppe „Phönix“. Der Name ist Programm: Wie der Vogel aus der griechischen Mythologie sollen die Teilnehmer aus der Asche wieder auferstehen.

Kollegen können genau so krank machen wie die Arbeit

Wie wertvoll der Erfahrungsaustausch ist, hat auch Iliane (Name geändert) gelernt. „Im Alltag spricht keiner darüber, aber wenn das Thema doch mal angeschnitten wird, erzählen überraschend viele von ähnlichen Problemen.“ Die Mittfünfzigerin hatte einen Bürojob, der ihr echte Freude machte, wie sie berichtet. Die Arbeit sei immer mehr geworden, das habe sie schon belastet. Was sie krank gemacht hat, war allerdings etwas anderes, ist sie überzeugt.
„Damals wollte ich es nicht wahrhaben, aber ich wurde systematisch gemobbt“, sagt sie. Eine einzelne Kollegin, die sie vom ersten Tag an abgelehnt habe, hätte sie immer wieder beim Chef angeschwärzt und nach und nach die Abteilung auf ihre Seite gezogen. Im Hintergrund stand eine private Verstrickung, vermutet Iliane. Die endlosen Sticheleien und fehlende Unterstützung von Vorgesetzten bleiben schließlich nicht ohne Folgen. Iliane kann nicht mehr schlafen, geht mit einem immer schlechteren Gefühl ins Büro. Konzentration und Motivation lösen sich auf bis zur völligen Blockade: „Eines Tages saß ich an meinem Schreibtisch und konnte die nächste Akte nicht öffnen. Es ging einfach nicht“, berichtet sie und ringt um Fassung. „Die letzten Tage habe ich nur noch geweint.“
In der Phönix-Gruppe seien viele Freundschaften entstanden, berichten die beiden Mitglieder. In ihrem privaten Umfeld finden Betroffene nicht unbedingt Verständnis, denn Halbwissen und Vorurteile zu psychischen Erkrankungen sind noch immer weit verbreitet. „Keiner konnte damit etwas anfangen“, berichtet Iliane. Auch in Uwe Henschels weitem Bekanntenkreis verstand damals niemand, was mit ihm los war. Die „Feuervögel“ möchten ihre Erfahrungen weitergeben – damit auch anderen die Auferstehung gelingt. Iliane ist froh, voraussichtlich bald wieder arbeiten zu können. In einem anderen Betrieb.
>>> „Gestärkt aus der Erschöpfungskrise“
Die Selbsthilfegruppe „Phönix“ trifft sich jeden ersten und dritten Dienstag im Monat von 17 bis 19 Uhr in den Räumen der IKK an der Handwerkerstraße 4.
Informationen erhalten Betroffene von Bernd Schartau unter 02371/9585-39487 oder per E-Mail an: shgphoenix@web.de
 
Quelle: https://www.ikz-online.de/staedte/iserlohn/phoenix-hilft-ausgebrannten-aus-der-asche-id216728095.html

Höher, schneller, Burnout


Zahl der Krankentage bei psychischen Beschwerden binnen zehn Jahren mehr als verdoppelt. Linke und DGB werfen Bundesregierung Untätigkeit vor

Höher, schneller, besser – und davon immer mehr: Der Konkurrenzkampf am Arbeitsmarkt ist hart. Der Leistungsdruck wächst, und viele Lohnabhängige müssen sich immer stärker auch geistig und emotional in den Prozess einbringen. Das wirkt sich auf die Psyche aus. Überlastung, Depression, Burnout heißen die modernen Diagnosen. So verzeichneten die Krankenkassen 2017 mit 107 Millionen bereits mehr als doppelt so viele Krankentage aus diesen Gründen wie noch zehn Jahre zuvor (knapp 48 Millionen). Das geht aus einer Antwort der Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS) an die Fraktion Die Linke im Bundestag hervor, die jW vorliegt.
Damit sind seelische Probleme nach Muskel- und Skeletterkrankungen der zweithäufigste Grund für Arbeitsunfähigkeit. Am häufigsten davon betroffen sind den Daten zufolge ältere Beschäftigte. So fehlte jeder Mann zwischen 60 bis 64 Jahren 2008 im Schnitt 1,26 Tage pro Jahr wegen psychischer Probleme. Im Jahr 2017 waren dies bereits 4,34 Tage pro Jahr und Kopf. Bei Frauen dieser Altersgruppe stieg die Zahl der Krankentage pro Person im selben Zeitraum von 1,26 auf 2,9. Für die Frühverrentung sind seelische Erkrankungen sogar die häufigste Ursache. Im vorvergangenen Jahr betraf dies mit 71.300 Menschen rund 43 Prozent der vorzeitig wegen geminderter Erwerbsfähigkeit aus dem Beruf Ausgeschiedenen.
Auch branchenbezogen gibt es große Unterschiede. Das BMAS zitiert dazu aus Befragungen durch die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA). Danach befördern vor allem gravierender Termin- und Leistungsdruck, sehr hohes Arbeitstempo, besondere emotionale Anforderungen und häufige Unterbrechungen der Tätigkeit psychische Erkrankungen. Dem fühlten sich besonders Sozialarbeiter, Lehrer und Freiberufler im wissenschaftlichen und technischen Bereich ausgesetzt, gefolgt von Beschäftigten in der Gastronomie, der Versicherungsbranche, im Logistik- und Transportgewerbe sowie im IT-Bereich.

Diese Entwicklung wird auch für das Kapital zum Bumerang. In ihrem letzten Jahresbericht schätzte die BAuA die Kosten für dadurch bedingten Ausfall in der Produktion und der Bruttowertschöpfung auf insgesamt knapp 34 Milliarden Euro. Zehn Jahre zuvor lag diese Summe noch bei rund 12,4 Milliarden Euro. In diesem Zeitraum stieg auch der Anteil der durch psychische Probleme verursachten an allen krankheitsbedingten wirtschaftlichen Ausfallkosten von elf auf 16 Prozent.
Auf die Frage nach einem schriftlichen »Konsens« zwischen Politik, Arbeiter- und Unternehmensvertretern aus dem Jahr 2013 gab sich das BMAS reserviert. Es gebe noch Prüfbedarf, teilte es mit. Und: »Betriebliche Gehaltslösungen könnten eher zum Ausgleich von Anforderungen vorhandenen Ressourcen beitragen.« Damals hatten der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB), das BMAS und die Arbeitgeberverbände zwar ein »gemeinsames Grundverständnis von psychischer Belastung in der Arbeitswelt« bekundet. Letztere hatten allerdings eine vom DGB vorgeschlagene Antistressverordnung abgelehnt und sich lediglich bereit erklärt, mit den Kassen stärker zu kooperieren. Das verpflichtet sie jedoch zu nichts.
Die Linke-Abgeordnete Jutta Krellmann spricht sich ebenfalls für eine solche Verordnung und flächendeckende Arbeitsschutzkontrollen aus, da »Beschäftigte über ihre Belastungsgrenze getrieben« würden. Unternehmen setzten sie immer stärker unter Druck und forderten mehr Flexibilität. »Auch der ökonomische Schaden wird größer, und die Bundesregierung schaut Däumchen drehend zu«, kritisierte Krellmann. Konsequenzen forderte auch DGB-Vorstandsmitglied Annelie Buntenbach. Sie bezeichnete die Untätigkeit der Regierung als »Frechheit«. »Flexibilität, Arbeitsstress und Verdichtung als Risikofaktoren für psychische Erkrankungen befinden sich seit Jahren auf hohem Niveau, und dieses Problem wird sich nicht von selbst in Luft auflösen«, so Buntenbach.

Quelle: https://www.jungewelt.de/artikel/351861.h%C3%B6her-schneller-burnout.html

Mit Zimmerpflanzen gegen Depressionen

Zimmerpflanzen galten lange als spießig und verstaubt. Jetzt kehren sie zurück als grüne Gefährten in Sozialen Netzwerken.
 
Katzendamen sind passé. „Plant lady is the new cat lady“, steht auf der grünen Brosche in Form eines Pflanzenblatts, die auf einem Pinboard in Sarah Remskys Wohnung befestigt ist. Remsky ist 25, angehende Journalistin, hat in Köln, London und Berlin gelebt, studiert Internationale Beziehungen an der FU Berlin – und: Ihr Zuhause ist ein urbaner Dschungel.
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50 bis 60 Pflanzen ranken sich aktuell in Remskys 45-Quadratmeter-Wohnung in Wedding die Wände hoch. „Normalerweise sind es doppelt so viele“, erzählt Remsky, doch die eine Hälfte steht schon in Köln bei ihrem Vater, wo die Studentin ihre Masterarbeit schreiben wird. Mit einem Kombi hat er sie dorthin transportiert. Wenn ihr Vater die Pflanzen hütet, hat sie ein gutes Gefühl. „Er hatte schon immer einen grünen Daumen“, sagt sie. Obwohl er selbst eher Drachenbäume oder Grünlilien hat, „so typische 90er- Jahre-Spießer-Zimmerpflanzen, die rumstehen und verstauben“, sagt Remsky und rollt nachsichtig mit den Augen.

Die Zimmerpflanzen von Remsky sind alles andere als gewöhnlich. Sie sind exotisch, kommen aus Thailand, Brasilien oder Kolumbien, haben klingende Namen wie Alokasie, Calathea oder Begonia Corallina und sie brauchen eine ganz besondere Fürsorge. Kurzum: Sie sind die Perserkatzen unter den Zimmerpflanzen. Tagsüber stehen sie im Rampenlicht diverser Vollspektrum- oder Blau-Rot- Spektrum-Lampen – Lichtquellen, die die Fotosynthese unterstützen.

Der Luftfeuchtigkeitsmesser auf einem der Pflanzenregale zeigt 37 Prozent. „Oh, das ist viel zu wenig, es sollten 60 oder 70 Prozent sein“, sagt Remsky, springt auf und schaltet ein Gerät an, das nun anfängt, nach und nach kalten Dampf zu versprühen. „Der Luftbefeuchter wurde eigentlich für Babyschlafzimmer entwickelt“, erklärt Remsky.

Angefangen hat alles mit einer Monstera

Tatsächlich versteht sie sich als Pflanzenmama. Auf Instagram postet sie unter dem Namen @misscalathea und verwendet unter ihren Bildern Hashtags wie #proudplantmom, #crazyplantlady oder #planterina. Und damit ist sie keine Einzelgängerin. Unter dem Hashtag #urbanjungle finden sich mehr als zwei Millionen Bilder von sogenannten Plantstagrammern.
Tropische Zimmerpflanzen erobern die sozialen Netzwerke und die Großstädte. Ein städtischer Urwald in den eigenen vier Wänden, ein grüner Rückzugsort inmitten von Beton und Trubel. „Man enturbanisiert sich zu Hause“, so beschreibt es Remsky. Menschen wie sie holen sich den Dschungel nach Berlin. Oder nach New York, nach London oder Melbourne.
Angefangen hat das bei Remsky im vergangenen August mit einer Monstera. Damals hatte sie keinen Schimmer, dass diese mondäne Pflanze mit den auffällig geschlitzten tiefgrünen Blättern den Namen Monstera trägt und dass Remsky selbst einmal diverse Monstera-Blätter aus Ton formen und sich ins Regal stellen oder montags auf Instagram Bilder zum #monsteramonday posten würde. Remsky befand sich in einer beginnenden Depression und wollte sich etwas Gutes tun. Sie hatte die Pflanze bei einem Inneneinrichtungsblogger gesehen, fand sie schick, ging in den Baumarkt und kaufte sich ein Exemplar des In-Grüns.
 

Als die Pflanze kurz darauf ihre schicken Blätter hängen ließ und drohte einzugehen, packte Remsky der Ehrgeiz. Zu lieb hatte sie ihre Monstera schon gewonnen. Eine Freundin riet ihr, sie zu trimmen, Pflanzenlampen zu besorgen. „Probier’s doch mal mit einer Sansevieria, einem Gummibaum, mit Balsamäpfeln oder mit Glücksfedern“, riet ihr die Freundin. „Das sind Anfängerpflanzen, die kann man auch mal einen Monat vergessen.“ Damit begann Remskys Shoppingtour.
1500 Euro hat sie ihre neue Leidenschaft seit August gekostet. Und ein paar Stunden Arbeit pro Woche. „Es ist weniger als man denkt“. Remsky lacht. „Ich weiß, es ist ein etwas nerdiges Hobby“, sagt sie. „Aber die Pflanzen haben mir geholfen, meine Depression in den Griff zu bekommen.“ Ihre Calathea-Sammlung hat sie besonders in ihr Herz geschlossen – „auch wenn es sich immer so anfühlt, als würde ich die anderen betrügen“, sagt sie. „Oh, Du kriegst ja wieder ein neues Blatt!“, ruft sie freudig, als sie ihre Calathea Makoyana vom Regal holt. Noch so eine Designpflanze.

Sie tauscht Ableger mit anderen Instagrammern

Im Regal finden sich auch Buchtitel wie „How to raise a plant and make it love you back“ oder „Wild at Home“. Heute geht Remsky kaum noch in den Baumarkt, wenn sie eine Pflanze sucht. Die allermeisten findet sie online. Oder sie tauscht Ableger ihrer Pflanzen mit anderen Instagrammern. Einen „Swap“ nennt man das in der Community. Dort erstellen die User sogenannte „Wish Lists“.
Inzwischen gibt es in Berlin Anlaufpunkte für Menschen wie Remsky: das Pflanzencafé „The Greens“ in der Alten Münze in Mitte. Oder die Pflanzenläden „Botanical Room“ in Kreuzberg und den „Plant Circle“ in Neukölln. Bei Monika Kalinowska, der Inhaberin vom Plant Circle, hat Remsky diverse Kurse besucht.
Darunter einen Keramik-Workshop, schließlich brauchen die Pflanzen ja auch Töpfe, oder einen zum Thema „Wie mache ich meine eigene Erde?“. Alles auf Englisch, denn Kalinowska stammt aus Polen und wie viele Hipster-Hypes ist auch diese Szene in Berlin international.

Quelle: https://www.tagesspiegel.de/berlin/instagrammerin-sarah-remsky-mit-zimmerpflanzen-gegen-depressionen/24188614.html