Freitag, 18. Januar 2019

„Wir sind die Mutmacher“


Das neue Auto oder der große Flachbildfernseher lassen sich locker per Null-Prozent-Finanzierung wuppen, der Traumurlaub wird auch nicht sofort bezahlt – selbst Schuhe im Teleshopping lassen sich mit Raten finanzieren. Nur allzuschnell werden Verbraucher dazu verführt, über die eigenen Verhältnisse zu leben. Der Bankenfachverband kam 2017 gar zu dem Ergebnis, dass 61 Prozent der finanzierten Käufe ohne die Möglichkeit zum Abstottern nicht getätigt worden wären.
Wer den Überblick über seine Finanzen verliert und immer weiter in die Schuldenfalle abrutscht, landet im besten Fall irgendwann bei Mechtild Kuiter-Pletzer oder Dana Bogner von der Schuldner- und Verbraucherinsolvenzberatung der Arbeiterwohlfahrt (Awo) in Pinneberg. Neuerdings bietet die Awo auch in Schenefeld eine offene Sprechstunde an.

Bevor jemand Platz nimmt bei der Awo neben dem Drosteipark, hat er zumeist einen langen Leidensweg hinter sich. Laut Kuiter-Pletzer, die Leiterin der Beratungsstelle, dauert es oft zehn Jahre, bis sich jemand Hilfe sucht. Seit 33 Jahren gibt es die Schuldnerberatung der Awo – damit war sie eine der ersten in Schleswig-Holstein. Kuiter-Pletzer ist seit 21 Jahren dabei.
Im vergangenen Jahr wurden in Pinneberg etwa 1500   Klienten betreut – 2017 waren es noch 1300. Während früher vor allem Menschen, die von Transferleistungen lebten, Unterstützung suchten, sind es heute mehrheitlich Arbeitnehmer. „Teilzeit-Stellen, Aufstocker, Minijobs und andere prekäre Beschäftigungsverhältnisse haben dafür gesorgt“, sagt die Chefin. Für Pinneberg, Schenefeld und andere Orte am Hamburger Rand kommen noch die hohen Mieten hinzu. „Heute liegt die Hauptursache für Schulden in den langfristigen Niedrigeinkommen.“ Dazu kommen Krankheiten wie Depression, Burn-Out, Sucht oder ein Bandscheibenvorfall – das könne jeden treffen. Deshalb seien auch unterschiedliche Schichten von Schulden betroffen, so Kuiter-Pletzer. Problematisch verliefen auch Scheidungen, da in dem Moment zwei Haushalte finanziert werden müssen. Wenn die Frau dann nur geringfügig verdient und nicht genug Unterhalt für die Kinder bekommt, kann sie ebenso bei der Beratung landen.

Die meisten Klienten seien zwischen 30  und 50 Jahre alt. Das bisherige Problem von Jugendlichen mit hohen Handy-Rechnungen habe sich hingegen erledigt, da heute zumeist eine Flatrate vertraglich vereinbart wird. Doch selbst Personen mit hohem Einkommen können in die Schuldenfalle geraten – wenn sie über ihre Verhältnisse leben.
Wer den Überblick über die Finanzen verliert und nur noch im Dispo lebt, schämt sich meistens, weiß auch Mitarbeiterin Bogner. Dies sei eine starke psychische Belastung, die in Depression münden kann. Ein Teufelskreis: „Schulden machen krank und Krankheit macht Schulden“, ergänzt Kuiter-Pletzer.
Wer sich durchringt, Hilfe in Anspruch zu nehmen, für den gehe es von da an bergauf. „Wir können jedem helfen, müssen aber manchmal auch knallhart sein“, führt die Leiterin aus. Alle Ausgaben und Einnahmen würden gegenübergestellt – vom Abo im Sonnenstudio bis zum Wocheneinkauf. Nach dieser Budget-Analyse könne ein Wohnungswechsel oder der Verkauf eines Autos stehen. „Das ist der Moment, wenn die Tränen fließen“, sagt Bogner. So könnten sich aber auch neue Perspektiven entwickeln.

Als letzte Option besteht die Möglichkeit, Verbraucherinsolvenz zu beantragen. Dann wird mit Gläubigern außergerichtlich verhandelt, wie viel zurückgezahlt werden kann – bis zu sechs Jahre lang. Danach können die Betroffenen neu durchstarten. Andere Menschen behalten ihre Schulden und müssten damit leben, dass der Gerichtsvollzieher jährlich klingelt und den Haushalt auf zu pfändende Gegenstände überprüft. Dies sei aber eher der Fall bei geringen Summen. Wer mit 3000 Euro in der Kreide steht, für den lohne sich der finanzielle Aufwand einer privaten Insolvenz teilweise nicht. Denn der kostet allein 2000 Euro.
„Viele denken vorher, dass sie versagt haben, und trauen sich nicht“, erläutert Kuiter-Pletzer. „Am Ende sagen die Leute: Wenn ich gewusst hätte, wie das läuft, wäre ich schon viel eher gekommen. Der erste Tag ist der schwierigste. Danach geht es wieder nach oben. Hier muss keiner rausgehen, ohne etwas Licht am Ende des Tunnels zu sehen.“ Deshalb kann sich die Leiterin auch keinen anderen Job vorstellen. „Ich wüsste nicht, was es Schöneres gibt, als Schuldnerberaterin zu sein. Wir sind die Mutmacher.“

Quelle: https://www.shz.de/lokales/schenefelder-tageblatt/wir-sind-die-mutmacher-id22316887.html