Samstag, 1. Dezember 2018

Bruce Springsteen: Das half ihm beim Kampf gegen Depressionen


Rockstar und depressiv
Bruce Springsteen (69) sprach schon vor einiger Zeit offen über seine Depressionen. Von klein auf litt der Sänger an der psychischen Erkrankung. Zu Beginn seiner Karriere, als er das Solo-Album "Nebraska" aufnahm, hatte er sogar einen schweren Nervenzusammenbruch. Gegenüber "Esquire" verrät er nun, was die Krankheit wohl bei ihm auslöste und ihm beim Kampf dagegen half.


Bruce Springsteen: "Ich habe mich wie eine leere Hülle gefühlt"

Springsteen vermutet, seine psychische Gesundheit sei von der schwierigen Beziehung zu seinem Vater, Doug Springsteen, geprägt. Doug erkrankte an paranoider Schizophrenie, und bis zu seinem Tod litt er ebenfalls an Depressionen. Es war vor allem seine kühle, abweisende Art, die es seinem Sohn so schwer machte. Im Interview mit "Esquire" erinnert sich der Musiker daran, wie er sich früher fühlte: "Als ich ein Kind war und dann später ein Teenager, habe ich mich wie eine sehr, sehr leere Hülle gefühlt. Und erst als ich angefangen habe, sie mit Musik zu füllen, habe ich meine eigene Stärke und meinen Einfluss auf meine Freunde und die kleine Welt, in der ich mich befand, gespürt."

In der Leere hat es dem heutigen Rockstar geholfen, zu musizieren. "Ich habe begonnen, aus mir selbst einen Sinn zu ziehen", erinnert er sich. Auch wenn seine Kunst ihn nicht komplett heilen konnte, hat er gelernt, mit der Krankheit zu leben und seine Probleme zu bewältigen. "Ich habe mentale Krankheiten nah genug erlebt, weiß also, ich bin nicht komplett gesund. Ich musste über die Jahre mit vielem klarkommen, und ich nehme verschiedene Medikamente, die mich ausgleichen."

Quelle: https://www.vip.de/cms/bruce-springsteen-das-half-ihm-beim-kampf-gegen-depressionen-4258125.html

Wie Therapeuten ihre Patienten mit kurzen Briefen aus schweren Depressionen helfen

 

Es war noch dunkel draußen, als Amanda vom Klingeln ihres Weckers aufwachte, aus dem Bett aufstand – und dann beschloss, sich umzubringen. Doch sie tat es nicht. Nicht um 5.30 Uhr am Morgen an diesem Freitag. Sie beschloss, es nach der Arbeit zu tun.
Amanda ging unter die Dusche. Sie zog sich eine Khaki-Hose und einen Sweat-Pullover an. Dann fütterte sie Abby, ihre kleine Hauskatze. Bevor sie aus der Haustür ging, schickte sie ihrer Therapeutin eine Email:
“Es war keine gute Nacht, ich hatte einen verstörenden Traum. Ich werde versuchen, durch den Tag zu kommen. Ich hoffe, ich schaffe es, mich zu fokussieren. Mein einziges Ziel ist es, heute Abend nach Hause zu kommen und zu schlafen.”
Amanda war damals 29 Jahre alt, blass, dünn und arbeitete als Krankenschwester – eine ruhige Person, die sich an Regeln hält. Sie hatte an diesem Tag überlegt, ob sie sich krank melden sollte, aber sie wollte ihre Kollegen nicht verärgern oder Aufmerksamkeit auf sich ziehen.
Wie immer kam sie früher im Büro an als alle anderen. Sie brauchte immer ein bisschen Zeit, um alleine klarzukommen und sich nicht mehr unwohl zu fühlen. Weil sie unbedingt in dieser Klinik außerhalb von Seattle arbeiten wollte, hatte sie sogar eine Gehaltskürzung in Kauf genommen.

Die Widerstandsfähigkeit anderer Frauen inspirierte sie

Ihre Patienten waren meist einkommensschwache Mütter und Schwangere. Einige waren obdachlos, einige waren vor Männern geflohen, die sie misshandelten und missbrauchten.
Die Widerstandsfähigkeit der Frauen inspirierte Amanda, aber sie war auch ein wenig eifersüchtig auf diejenigen, die Antidepressiva gefunden hatten, die wirkten.
Dieser Tag, es war der 28. September 2007, war der erste, an dem sie sich ohne einen vorgesetzten Arzt um die Patientinnen kümmern sollte.
Allzu viel stand nicht auf Amandas Tagesplan. Sie musste drei, vielleicht vier Patienten betreuen. Sie maß ihren Blutdruck, checkte ihr Gewicht. Stellte ihnen die täglichen Standardfragen. Fragen danach, wann sie ihren letzten Rückfall hatten, danach, ob sie sich den neuen Kindersitz für ihr Kind leisten konnten, danach, ob sie eine Vorgeschichte psychischer Krankheiten hatten.
Amanda hasste diese Fragen. Sie selbst hätte diese Fragen nie beantworten. Sie waren zu intim, zu persönlich.

Keiner merkte etwas, sie hielt einfach die Fassade aufrecht

In einer Email, die sie ihrer Therapeutin einen Monat zuvor geschrieben hatte, gestand Amanda, dass sie gelegentlich versuche, eine “Maske der Normalität” aufzusetzen.
Immer wieder sagten ihr Patienten, wie optimistisch sie sei. Aber es gab da den großen anderen Teil, den sie alle nicht sahen, den sie versteckte:
“Der Teil, in dem ich aus dem Raum gehe, mich am Ende des Tages in mein Auto setze, tief durchatme und auf dem ganzen Weg nach Hause weine. Ich habe immer getan, was getan werden muss. Und wenn ich damit fertig war, konnte ich endlich alles rauslassen.”
Das erste Mal beschäftigten Amanda die Gedanken an Selbstmord kurz nach ihrem 14. Geburtstag. Ihre Eltern durchlebten gerade einen hässlichen Scheidungskrieg, als ihre soziale Angst und ihr Perfektionismus in der Schule sie zum ersten Mal aus der Bahn warfen.
Amanda war 20, als sie das erste Mal versuchte, sich das Leben zu nehmen. In den kommenden Jahren folgten einige weitere Versuche. Meistens versuchte sie es mit Tabletten vor dem Schlafengehen. Damit ihre Mitbewohner einfach denken würden, sie schlafe.

Sie verzweifelte daran, dass sie es nicht schaffte, sich das Leben zu nehmen

Aber sie wachte jedes Mal am nächsten Morgen wieder auf. Und verzweifelte daran, dass sie sogar dabei versagte, sich das Leben zu nehmen.
Sie wollte mit niemandem darüber sprechen. Für sie steckte hinter Selbstmordversuchen kein Hilfeschrei, sondern ein Geheimnis, das wohl behütet werden sollte.
Also schrieb sie lange nur Tagebuch. Doch irgendwann begann sie doch eine Therapie. Doch die war nicht sonderlich hilfreich. Zu oft stieß ihr Schmerz auf Ignoranz oder Schlimmeres.
In der Kirche sagte ihr eine Beraterin einmal, sie solle mehr beten, dann würden ihre Depressionen verschwinden. Ein Therapeut weigerte sich einmal mit ihr zu sprechen, wenn sie sich nicht komplett öffne. Sie ging und kam nie wieder. Die Schule, an der sie ihre Ausbildung zur Krankenpflegerin absolvierte, zwang sie wegen ihrer Depressionen und ihren Angstzuständen, Urlaub zu nehmen. Es war ein weiterer Tag, an dem sie versuchte, sich umzubringen.

Ursula Whiteside war anders als alle anderen Therapeuten zuvor

Und dann traf sie irgendwann Ursula Whiteside. Sie war ganz anders, als alle anderen Therapeuten zuvor. Amanda war eine ihrer ersten Patientinnen.
Whiteside ist überaus sensibel. Sie erkannte, dass das bloße Sitzen im Wartezimmer Amandas soziale Angst schürte. Und sie verhielt sich unkonventionell. Mal machte sie während einer Sitzung einen Kopfstand, mal führte sie Amanda in ein Spielzimmer für Kinder, um die Atmosphäre aufzulockern. Und manchmal schaffte sie es, Amanda mit einem trockenen Witz, ein Lächeln ins Gesicht zu zaubern.
Trotzdem gab es Sitzungen, die mit totaler Frustration endeten. Also beschlossen die beiden, dass sie zwischen den Terminen Emails austauschen. Immer, wenn sie sich schlecht fühlte oder etwas los werden wollte, schrieb Amanda Ursula eine Email. Meistens war das mitten in der Nacht. Mal waren die Mails kurz, mal länger. Am 26. August 2007 schrieb Amanda:
“Ich wollte dir erzählen, was am Wochenende passiert ist. Ich glaube, ich schaffe es nicht, es dir persönlich zu sagen. Ich habe das Wochenende überlebt. Das war wohl das Ziel. Am Freitag bekam ich Panik. Ich nahm zwei extra Pillen. Normalerweise nehme ich nur eine. Am Freitagabend nahm ich drei. Es war dumm. Ich wollte einfach nur schlafen. Es war dumm, weil es nichts bewirken würde. Ich bin gestern Abend zu meiner Freundin nach Hause gegangen. Sie hat mich beschützt, obwohl sie das nicht einmal weiß.”
Die Therapeutin antwortete oft mit vielen Ausrufezeichen und unterstrichenen Worten. Sie wusste, wie wichtig es war, optimistisch zu bleiben.
Aber dann, einen Monate später, erreichte die Therapeutin Amandas E-mail, die sie morgens vor der Arbeit geschickt hatte. Dieses Mal antwortete sie ihr einfach schnell zurück – ohne den sonst üblichen Schnickschnack.
Am Tag zuvor hatten sie sich gesehen und Amanda kam Ursula in der Sitzung verschlossener vor als sonst. Ursula spürte, dass es wichtig war, Amanda zu zeigen, dass sie mitfühlte. Deshalb schrieb sie:
“Wenn du vorhast, dich heute Abend oder am Wochenende umzubringen, muss ich das wissen.”
Sie schickte die Nachricht um 7 Uhr morgens. Dann wartete sie. 10 Uhr. 12 Uhr. 13.30 Uhr. Ursula rief ihren Vorgesetzten an, um zu überlegen, wie sie am besten vorgehen sollte.
Wenn ihr Instinkt richtig lag, sollte sie eine Polizeistreife bei Amanda vorbeischicken und würde ihr so womöglich das Leben retten.
Wenn sie sich irrte, könnte das all das Vertrauen zerstören, das sie zu Amanda in den vergangenen Monaten aufgebaut hatte.

Polizisten fanden die junge Frau erst nach Stunden

Amanda verließ um 16.30 Uhr die Arbeit und hielt in einer Apotheke, um ein Rezept einzulösen. Sie wollte sichergehen, dass sie genügend Antidepressiva hatte, um eine Überdosis nehmen zu können. Dann fuhr sie nach Hause, suchte andere Schlaftabletten zusammen, um alles miteinander vermischen zu können.
Auf Ursulas Nachrichten antwortete sie nicht. Sie schrieb auch keinen Abschiedsbrief. Als es dunkel war, zog sie sich ihren Pyjama an und putzte sich die Zähne. Sie atmete tief durch, schluckte eine Pille nach der anderen, dutzende, legte sich auf ihr Bett und schlief ein.
Ursula hatte indes viel Arbeit an diesem Tag, aber immer wieder kreisten ihre Gedanken um Amanda. Sie war sehr besorgt, sie hinterließ ihr immer wieder Sprachnachrichten, SMS, erzählte ihr, dass sie sich um sie kümmern würde, dass sie sich sicher war, dass die Therapie funktionieren würde. Am Abend rief sie schließlich die Polizei. Sie kannte das Risiko. Aber es war ihr inzwischen egal.
Als die Polizisten eintrafen, konnten sie Amanda nicht finden. Die Adresse, die Ursula hatte, war veraltet. Glücklicherweise kannte ein Nachbar eine Nummer von einem Freund Amandas. Doch der wollte ihre Adresse nur rausrücken, wenn er die Polizei persönlich treffen könnte. Wertvolle Zeit verstrich. Deshalb fanden die Polizisten die junge Frau erst Stunden, nachdem sie die Pillen geschluckt hatte. Aber sie lebte noch.

Menschen aller Altersklassen, Männer und Frauen wollen sich das Leben nehmen

Amanda wurde in die Notaufnahme gebracht, sie hatte einen Infusionsschlauch am Arm, eine Sauerstoffmaske über dem Gesicht. Sie war schwach, konnte kaum sprechen. Aber sie war physisch gesund. Aber psychisch nicht.
Nach ein paar Tagen wurde sie in einen anderen Teil der Klinik verlegt. Ein “Sitter” sollte sie beobachten, damit sie sich nicht selbst verletzte. Sie konnte nicht glauben, dass sie noch lebte. Sie hatte niemanden angerufen. Keine Freunde, keine Familienangehörigen. Ihr geistiger Zustand war noch immer derselbe. Amanda wollte noch immer sterben.
Überall auf der Welt wollen Menschen sterben. Allein in Deutschland haben sich 10.078 Menschen im Jahr 2015 das Leben genommen.
1980 lag die Suizidrate zwar noch bei über 18.000 im Jahr. Die Selbstmordrate ist zwischen 1995 und 2009 um 32 Prozent gesunken. Dennoch nehmen sich noch immer mehr Menschen selbst das Leben, als zusammengenommen in Deutschland in Verkehrsunfällen (3459), an HIV und Drogenmissbrauch sterben.
Betroffen sind Menschen in allen Altersklassen und jeden Geschlechts, Männer etwas häufiger als Frauen und überdurchschnittlich viele im Alter von 45 bis 65 Jahren.

Suizide lassen Angehörige und Bekannte traumatisiert zurück

Ein Selbstmord lässt Angehörige, Bekannte und Kollegen oft ratlos und verzweifelt zurück. Sie stellen sich Fragen, die sie eventuell den Rest ihres Lebens nicht mehr loslassen: “Warum habe ich nichts gemerkt? Hätte ich etwas tun können? Warum habe ich ihn/sie nicht gerettet? Wenn es doch nur eine Notiz, einen Abschiedsbrief gegeben hätte? Wenn ich doch nur mit der letzen Person sprechen könnte, die er/sie gesprochen hat.”
Julie Cerel ist Vorsitzende der American Association of Suicidology. Die Psychologin sagt:
“Auf einen Selbstmord folgen zusätzliche Traumata. Die Frage nach dem ‘Warum’, die Suche nach einer Bedeutung, einer Erklärung, wo es vielleicht keine gibt. All das kann sehr qualvoll sein.”
Cerel hat eine Studie veröffentlicht, in der sie darlegt, wie die Folgen eines Selbstmordes bis zu 135 weitere Menschen betreffen und traumatisieren können.

Viele Therapeuten sind mit suizidgefährdeten Patienten überfordert

Der Umgang mit Suizid beschäftigt die Medizin seit Jahrzehnten. In den 1950er Jahren wurden Hotlines ins Leben gerufen, Einzel- und Gruppentherapien entwickelt, aber auch bizarre Methoden wie Schocktherapien, Zwangseinrichtungen und Schlimmeres praktiziert und ausprobiert.
Auch heute noch wissen die meisten Experten für psychische Gesundheit kaum damit umzugehen, wenn ein suizidgefährdeter Patient ihre Praxis betritt.
Jeff Sung ist Psychiater und ein Kollege von Urusla Whiteside. Er arbeitet mit Hochrisiko-Patienten und bildet andere im Umgang mit ihnen aus. Er prangert an, dass viele Menschen, die psychiatrische Hilfe benötigen würden, keine bekommen:
“Du nimmst jemandem, dem es nicht gut geht, schaltest ihn ab und wirfst ihn in ein System, das von ihm ein hohes Maß an Problemlösungsfähigkeit und emotionaler Regulierung fordert.”
Ursula Whiteside will anders sein. Sie ist anders.
Sie ist verärgert darüber, mit wie viel Kälte viele ihrer Kollegen suizidgefährdeten Patienten begegnen. Sie fährt einen unkonventionellen Therapie-Weg. Sie kennt ihre Patienten. Sie weiß, wer sie sind.
Sie versteht, wie Selbstmordgedanken ihrer eigenen, verführerischen Logik folgen. Wie der Gedanke, dass Suizid Ausweg für ein Ende aller Schmerzen sein könne, Trost spenden könne. Sie versteht und sieht, wie und warum sich Menschen diesen Gedanken zuwenden, hingeben können, wenn sie in eine Krise geraten – auch wenn es nur eine kleine Krise ist, wie den Bus zu verpassen, um pünktlich in die Arbeit zu kommen.

Für Whiteside sind Selbstmordgedanken viel gefährlicher als Depressionen

Das, sagt sie, sei auch der Grund, weshalb selbstmörderische Gedanken und Triebe noch viel gefährlicher sind als Depressionen. Denn Menschen können den Tod als Antwort auf ein Problem verstehen.
Und sie weiß, dass viele ihrer Patienten diesen Gedanken niemals ablegen können.
Deshalb beschreibt sie ihren Beruf als einen endlosen Krieg.
Whiteside selbst wurde vor 40 Jahren in Colville in Wahsington geboren, als Kind von Eltern, die sehr abenteuerlich lebten, viel umherreisten und umzogen. Whiteside wechselte sieben Mal die Schule.
Sie merkte schon als Teenager, wie mitfühlend sie war und wie gut darin, anderen zu helfen. Aber sie hatte in der High School selbst mit ihrem Körperbild, Depressionen und Angstzuständen zu kämpfen. Sie fand es entsetzlich schwierig, über das zu sprechen, was sie erlebte, was sie fühlte. Die Idee, um Hilfe zu bitten, was “das Schrecklichste, was ich mir vorstellen konnte”, sagte sie.

Sie wollte ihre Verzweiflung verstehen

Eines Tages, als sie schon auf dem College war, schrieb sie ihrer Mutter – die ihren Bruder durch Selbstmord verloren hatte – einen langen Brief, in dem sie von ihren Höhen und Tiefen erzählte:
“Ich schreibe dir diesen Brief, weil es mir oft schwer fällt, laut auszusprechen, was ich meine. Ich bin nur ein Feigling.”
Sie wollte unbedingt die Mechanismen von Verzweiflung, von ihrer Verzweiflung verstehen. In ihrem Tagebuch schrieb sie:
“Alles, was ich tue, muss extrem sein. Ich erlebe Phasen, in denen ich mich selbst durch und durch liebe – dann erlebe ich andere, in denen ich nur an Messer und Brücken denken kann.”
Dann fing sie an, in ihrer Freizeit Bücher und wissenschaftliche Artikel über Psychologie zu lesen und war fasziniert von den praktischen Möglichkeiten, die eine Lösung für die hartnäckigsten Probleme des Lebens liefern konnten. “Ich besuchte meinen ersten Psychologiekurs und dachte mir ‘Oh mein Gott, du kannst die Dinge tatsächlich ändern. Es ist keine Magie’”, sagte sie später.
Sie besuchte Kurse von Marsha Linehan an der University of Washington. Die Psychologin ist eine Legende auf dem Gebiet der Suizidforschung und hat die Therapieform der Dialektischen Verhaltenstherapie entwickelt. Sie unterstützt Patienten dabei, ihre selbstmörderischen Impulse umzuleiten.

Whiteside konnte nicht aufhören, an ihre Patienten zu denken

Später machte Whiteside ein Praktikum in der psychiatrischen Abteilung des Harborview Medical Center in Seattle. Niemand nahm sich dort viel Zeit für die Patienten. Es ging viel mehr darum, sie zu stabilisieren, mehr nicht. Für mehr war anscheinend keine Zeit da.
Doch Whiteside nahm sich diese Zeit. Ein Patient von damals erzählte später:
“Keiner wusste, was er mit mir machen sollte. Aber Ursula war anders. Sie sah mich an und ich spürte, dass sie wirklich darauf wartete, dass ich ihr Antworten gab. Keine Antworten auf Fragen wie ‘Was sind deine Smymptome? Welche Medikamente nimmst du?’ Sondern sie sagte ‘Erzähl mir ein wenig von dir und deiner Geschichte’.”
Schon damals wusste Whiteside, dass Menschen, die das Krankenhaus nach einem Selbstmordversuch wieder verließen, ein hohes Risiko hatten, sich innerhalb der kommenden 90 Tage erneut selbst zu verletzen.
Und trotzdem wurden die Patienten nach Hause geschickt, bekamen Empfehlungen für andere Kliniken oder wurden auf Wartelisten von Therapeuten gesetzt, wo sie nie hingingen.
Whiteside konnte nicht aufhören, an ihre Patienten zu denken, wenn sie das Krankenhaus verlassen hatten. Also fing sie an, sie aufzuspüren und rief sie an, um zu sehen, ob sie Hilfe benötigten oder einfach nur, um sie wissen zu lassen, dass sie an sie dachte. Sie gab den Patienten ihre Telefonnummer, wenn sie das Krankenhaus verließen. Auf die Rückseite schrieb sie ihnen eine persönliche Nachricht. Sie tat alles, um sie an diese Welt und dieses Leben zu binden.
Aber es gab auch Rückschläge, Menschen die sie nicht mehr kontaktieren konnte, von denen sie irgendwann erfuhr, dass sie sich das Leben genommen hatten. Sie verzweifelte fast daran, trank einmal abends so viel Wein, dass es ihr egal war, ob sie jemals wieder aufwachen würde. Das machte ihr große Angst. Sie erkannte für einige Augenblicke, wie es sich anfühlte, selbstmordgefährdet zu denken, selbstmordgefährdet zu sein.

Sind kurze, einfache Briefe die Lösung?

Dann stieß sie auf die Arbeit eines schon lange pensionierten Psychiaters und Selbstmordforschers: Jerome Motto. Er war in der akademischen Welt nicht sehr bekannt, aber Whitesides Mentorin Marsha Linehan an der Universität war begeistert von ihm. Er war der einzige US-Amerikaner, der ein Experiment entwickelt hatte, in dem die Zahl von Selbstmorden unter gefährdeten Personen drastisch zurückgingen – schon Ende der 1960er Jahre.
Seiner Therapie und Technik liegt ein tausendseitiges Handbuch zugrunde. Doch im Endeffekt steckt dahinter eine simple Idee: Alles, was er im Grunde tat, war, gelegentlich Briefe an seine gefährdeten Patienten zu schreiben.
Als Whiteside das begriff, fing sie an zu weinen und dachte:
“Oh mein Gott. Was, wenn es das ist, was wir tun sollten? Was, wenn es so einfach ist?”
Der Gedanke hinter Mottos Methode wirkt fast lächerlich: Briefe, die einen Menschen aus einem so tiefen Abgrund zurückholen können? Es sind keine persönlichen Nachrichten, sondern elektronisch erstellte Serienbriefe.
Motto wollte, dass sie einfach und direkt sind, ohne medizinisches Fachjargon oder Forderungen wie ‘Du solltest wirklich versuchen, die Therapie wieder aufzunehmen’. Die Nachrichten sollten einfach ein Gefühl von Nähe vermitteln. So sollten klingen wie Nachrichten, die man einem guten Freund schicken würde.
Mottos erster Brief, den er an einen Patienten schickte, bestand nur aus zwei Sätzen, 37 Wörtern – die sich genau richtig anfühlten:
“Es ist schon eine Weile her, seitdem du hier bei uns im Krankenhaus warst und wir hoffen, dass es dir gut geht. Wenn du uns eine Nachricht zukommen lassen willst, freuen wir uns, von dir zu hören.”
Jedem Brief, den das Forscherteam um Motto verschickte, lag auch ein adressierter Rückumschlag bei – allerdings ohne Briefmarke. Damit sich niemand verpflichtet fühlte, unbedingt etwas zurückschicken zu müssen.
Die Briefe wurden an alle Patienten regelmäßig verschickt. In den ersten vier Monaten nach dem Verlassen der Klinik einmal im Monat, dann für die kommenden 8 Monate im zwei monatlichen Rhythmus und dann in den kommenden drei Jahren alle drei Monate. Sprich: Im Zeitraum von 5 Jahren wurden den Patienten 24 Mal dieser Brief geschickt.
Darin stand nicht immer dasselbe, aber sinngemäß war es immer eine kleine Erinnerung daran, dass das Team weiter an seine Patienten denke und zeigte, dass sie Interesse am Wohlbefinden ihrer Patienten hatten – und jederzeit offen waren, wenn jemand wieder den Kontakt aufnehmen wollte.

Irgendwann fingen die Patienten an zu antworten

Zwischen 1969 und 1974 befragten die Forscher von Motto mehr als 3000 Patienten. Und dann, nach einer Weile, zeigte das Experiment Wirkung. Die ersten Patienten schrieben zurück. Manche extrem kurz und zaghaft wie “Mir geht’s gut, danke.”
Andere waren mitteilsamer. Ein Patient bat um ein Rezept für Valium, eine andere bat um Hilfe bei der Suche nach einem neuen Zuhause für ihre Katze. Ein junger Mann befürchtete, nach Vietnam verschifft zu werden und hoffte, dass Mottos Team der Armee einen Brief schicken könnte, der seinen vorherigen Krankenhausaufenthalt bestätigte. “Ich würde lieber mein eigenes Leben nehmen, als das eines anderen zu zerstören”, schrieb er.
Andere bedankten sich bei Motto und seinem Team für die Erinnerung an sie und schrieben: “Ihr werdet nie wissen, wie viel mir eure kleinen Notizen bedeuten.”
“Bitte rufen Sie mich an, egal wie spät es ist. Ich liebe meine Kinder, aber ich brauche eine Pause. Ich denke, ich habe einen Nervenzusammenbruch”, schrieb eine Frau 1973.

Mottos Methode zeigte erstaunliche Erfolge

Ein Studienteilnehmer prägte sich besonders in Mottos Gedächtnis. Der Mann aus San Francisco beschrieb sich selbst in einem Brief als eine zerbrochene Vase, die nur von seinen eigenen Händen zusammengehalten werde. Sein Brief umfasste fünf Seiten und las sich, als hätte es den Mann Tage gekostet, die Worte zu finden. Er begann mit dem Satz:
“Du bist der hartnäckigste Hurensohn, dem ich jemals begegnet bin, also muss dir wohl wirklich etwas an mir liegen.”
Für Motto brachte das das Ziel seiner Studie auf den Punkt. Er nannte ihn den “Bingo-Brief”.
Nach vier Jahren hatten Motto und sein Team ausreichend Daten gesammelt, um ihre Arbeit auszuwerten. Und das Ergebnis war erstaunlich. Ihr Erfolge waren in der Geschichte der Suizidforschung beispiellos. Die Selbstmordrate der Kontrollgruppe war nach den ersten beiden Jahren Klinik-Aufenthalt doppelt so hoch, wie die derjenigen, die von Mottos Team mit Briefen kontaktiert worden waren.
Es war das erste Experiment, dass es geschafft hatte, die Selbstmordrate zu senken. Und, Motto hatte auch etwas anderes bewiesen: Menschen, die versucht hatten, sich das Leben zu nehmen und nichts mehr mit dem Gesundheitssystem zu tun haben wollten, waren dennoch weiter erreichbar und zugänglich.

Whiteside erkannt schnell die Macht ihrer Nachrichten

Auch Whiteside schickt ihren Patienten Nachrichten, auch wenn sie persönlicher und weniger geradlinig sind, als die von Motto. Einer Patientin fiel es schwer, morgens aufzustehen. Also schickte ihr Whiteside regelmäßig lustige Tier-Gifs wie “Hier kommt die magische Guten-Morgen-Ziege, die diesen Tag weniger baaah macht” oder “Dieses Kaninchen braucht Nahrung. Nur du kannst es füttern und musst aufstehen”.
Da Motto zu seinen Lebzeiten wenig mit seiner Arbeit hausieren ging, war seine Forschung über die Jahre fast in Vergessenheit geraten. Doch auch wenn die Nachrichten anders sind als die von Motto, nutzt Whiteside seine Grundidee und seine Erkenntnisse – mit Erfolg.
Vor vier Jahren hatte sie damit begonnen, ihren Patienten diese Nachrichten zu schicken und merkte schon bald, wie mächtig ihre Wirkung ist. Die Nachrichten sind wie ein Beweis dafür, dass es eine echte Beziehung zwischen ihr und den Patienten gibt. Ein Beweis, an dem sich viele festhalten, weil er ihnen zeigt, dass es jemanden gibt, der sich um sie sorgt, sich um sie kümmert.
Mit der Zeit hat Whiteside ein paar Regeln entwickelt: Nachrichten bekommt nur, wer dem zustimmt. Niemand muss zurückschreiben. Wenn die Patienten zurückschreiben, müssen sie verstehen, dass Whiteside nicht immer sofort antworten kann, denn manchmal ist sie unterwegs, in einer Sitzung, beim Mittagessen. Auch verlangt sie von ihren Patienten Feedback und, dass sie ihr sagen, welche Nachrichten ihnen gefallen und welche nicht.

Auf der ganzen Welt nutzen Wissenschaftler die Methode

Auch für sich selbst hat sie Regeln aufgestellt: Tippfehler sind okay. Ein wenig genervt zu sein, ist okay. Jeder Text sollte zum Verfassen nicht mehr als 90 Sekunden benötigen. Denn alles, was sich länger liest, könnte zu sehr bearbeitet wirken und weniger wie eine Nachricht unter Freunden. Auch achtet sie darauf, nicht nur dann zu schreiben, wenn sie das Gefühl hat, ein Patient stecke in einer Krise. Der Grund für eine Nachricht soll einfach nur sein, dass sie gerade an jemanden gedacht hat. Whiteside sagt:
“Ich glaube, Menschen sterben, wenn sie sich komplett alleine fühlen.”
Inzwischen sind auch einige andere auf Mottos und auch Whitesides Ansatz aufmerksam geworden – zum Beispiel Gregory Carter, ein Psychiater aus Australien, Hossein Hassanian-Moghaddam, ein Wissenschaftler aus Teheran, Kate Comtois, eine Suizid-Forscherin aus Seattle oder das Team um die Klinikgründer Konrad Michel und Anja Gysin-Maillart in Bern.
In Bern beispielsweise konnten die Wissenschaftler ein um 80 Prozent reduziertes Suizid-Risiko bei Patienten verzeichnen, die nach einem Klinik-Aufenthalt über Monate und Jahre Briefe und Nachrichten erhielten.
Eine der Patienten dort, die Studentin Anna, erzählt, dass sie sich komplett verloren in der Welt gefühlt habe, bevor sie in die Klinik gekommen war.

Anna vertraut in den Briefen viel mehr an, als sie ihren Freunden und ihrer Familie anvertraut

Ihre Antworten auf die Nachrichten von Therapeutin Gysin-Maillart wurden immer länger. Sie schreibt, wie schwer es ihr fällt, sich wieder in den Alltag zu fügen, wie ihre Freunde sie nicht verstehen und warum sie nicht weinen kann. Und, dass sie mit dem Rudern angefangen hat, um damit fertig zu werden:
“Rudern auf dem Rhein, wenn alles noch ruhig und ungestört ist und der Nebel über dem Wasser liegt und die Sonne sich langsam aufzuwärmen beginnt, der leise Schlag der Ruder und das Rauschen des Wassers um mich herum – all das gibt mir ein unbeschreibliches Gefühl.”
Anna erzählt Details aus ihrem Alltag und ihrem Innersten, die sie weder mit ihrem Therapeuten noch mit ihrer Mutter – zu der sie eine innige Beziehung hat – teilen wollte. Für Anna wurde Gysin-Maillart zum Hüter all ihrer Geheimnisse. Sie schrieb Gysin Maillart einmal:
“Ich habe deinen Brief bekommen und wollte ihn eigentlich gar nicht öffnen, weil ich das freudige Gefühl, das mich überkommt, wenn ich einen Brief bekomme, nicht zerstören wollte.”
Auch als Anna irgendwann nicht mehr weiter wusste und erneut mit dem Gedanken spielte, sich das Leben zu nehmen, tat sie, was sie schätzen gelernt hatte. Sie begann, Gysin-Maillart eine Email zu schreiben. Genau so, wie sie es in früheren Briefen getan hatte, schüttete sie all ihre Gedanken aus.
Aber als sie fertig war, wurde ihr klar, dass sie die Nachricht nicht einmal abschicken musste. Es genügte schon, die Zeilen zu schreiben.
Und Amanda?
Amanda stimmte einem Treffen mit uns und Whiteside zu. Wir trafen uns vor dem Büro der Therapeutin. Die Silhouette von Amanda tauchte im Dämmerlicht auf der Straße auf, sie begrüßte uns mit einer Stimme, so leise, dass man sie kaum verstehen konnte. Seit zwei Jahren hatte sie keine Therapie-Sitzungen mehr bei Whiteside. Aber die beiden sind weiterhin in Kontakt.
Ich fragte Amanda, wie es für sie war, als sie Whiteside zum ersten Mal begegnete.
Die zierliche Frau sagte: “Ich dachte, sie sei naiv. Alle anderen, mit denen ich gearbeitet hatte, wirkten überfordert und verängstigt und frustriert. Ich sorgte mich immer, ob ich zu viel für sie sei.”
“Ich verstand, dass du dich so gefühlt hast. Ich glaube, wenn es irgendetwas gab, dann zweifelte ich an meinen Fähigkeiten”, entgegnete Whiteside.
“Selbstmord fühlte sich immer wie mein Problem an. Alle gaben mir die Schuld dafür und ich musste das Problem in Ordnung bringen”, erinnerte sich Amanda.

Worte können eine Chance sein, jemanden zu retten

“Glaubst du, du konntest spüren, dass ich mich um dich sorgte, mich um dich gekümmert habe? Oder konntest du es nicht glauben?”, fragte Whiteside.
Amanda zögerte und hielt inne. Das einzige Geräusch in diesem Moment im Raum war die Kordel der Jalousien, die gegen das Fenster klickte. 15 Sekunden vergingen.
“Ich dachte, du sorgst dich um mich, so wie sich ein Lieferant um seine Kunden sorgt”, beantwortete Amanda schließlich Whitesides Frage.
“Hat sich das irgendwann geändert? Oder war das...” Whiteside stockte. “Du kannst definitiv nein sagen.”
“Ich glaube, mein Kopf sagte mir, ich müsse einfach weiter daran denken ‘Sie ist nicht meine Freundin, sie ist meine Therapeutin’. Ich denke, es hätte es härter gemacht, wenn ich das Gefühl gehabt hätte, dass es keine Grenze gibt”, sagte Amanda.
Dann suchte Whiteside nach den Mails von damals, dem Tag im September 2007, als sich Amanda das Leben nehmen wollte. Die beiden lasen die Nachrichten, Whiteside überlegte, was sie heute anders formulieren, anders machen würde. Dann kamen Amanda die Tränen.
Sie wusste keine Antwort darauf, was sie hätte aufhalten können, die Pillen zu schlucken. Aber irgendwann sagte sie, vielleicht habe sie darauf gewartet, dass sie einfach jemand mit den richtigen Worten erreichte. “Ich glaube, das hätte meine Meinung ändern können.”

Quelle: https://www.focus.de/panorama/welt/good-depression-therapeutin-bewahrt-menschen-mit-briefen-davor-sich-umzubringen_id_10000554.html