Samstag, 15. Dezember 2018

„Depressionen werden bei Männern systematisch unterdiagnostiziert“


Manche Stereotype halten sich hartnäckig: Demnach neigen insbesondere Frauen zu Depressionen. Ein Irrglaube – dies zeigt auch die dreimal höhere Suizidrate bei Männern. Es gibt einen Grund, warum sie durch das Diagnoseraster fallen.
Mark Hogencamp liegt schreiend auf dem Boden. „Wir müssen in Deckung gehen, wir müssen in Deckung gehen!“, ruft er panisch. Sein Gesicht ist vor Angst verzerrt, die Augen sind zugekniffen. Hogencamp leidet an Angstattacken. Er bildet sich ein, animierte Barbiepuppen zu sehen. Sie prügeln auf ihn ein, sehen aus wie Nazis. Fünf weitere Barbiepuppen erscheinen, weiblich und auf Stöckelschuhen. Mit Maschinengewehren erschießen sie die Angreifer, retten Hogencamp.
Die Szenen stammen aus dem Trailer zum Film „Willkommen in Marwen“, der Anfang 2019 ins Kino kommt. Steve Carell spielt die Hauptrolle, die Geschichte des Films ist wahr. Nach einem Barbesuch im April 2000 wird der Maler Mark Hogencamp verprügelt und erkrankt an einer posttraumatischen Belastungsstörung. Als seine Versicherung die nötige Therapie nicht mehr bezahlt, flüchtet er sich in eine Fantasiewelt: das belgische Miniaturdorf Marwencol, das er in seinem Garten aufbaut. Dort durchlebt er die traumatische Erfahrung wieder und wieder und versucht, sie zu bewältigen.

Ein Mann, der an einer psychischen Störung leidet, und weibliche Helden – das ist in Mainstream-Medien ein ungewohntes Bild. Denn entsprechend dem Stereotyp sind Frauen ängstlich, schwach und traurig, Männer hingegen stark und belastbar.
Statistiken über Depressionen bei Männern und Frauen scheinen das auf den ersten Blick zu bestätigen. Es gibt eine deutliche „Gender Depression Gap“, eine Schere, die besagt, dass zwei- bis dreimal so viele Frauen wie Männer die Diagnose Depression erhalten. Doch es gibt noch eine andere Zahl: Etwa dreimal so viele Männer im Vergleich zu Frauen begehen Selbstmord. Wie passt das zusammen?
Dass Männer ein geringeres Depressionsrisiko haben, schließt Anne Maria Möller-Leimkühler, Sozialwissenschaftlerin an der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie München, aus: „Es gibt keine Daten, die das biologisch oder psychologisch belegen können. Vielmehr handelt es sich um eine systematische Unterdiagnostik bei Männern“, erklärt sie. Depressionen seien keine Frauenkrankheit. Ein Faktor sei, dass Männer noch immer seltener zum Arzt gehen – trotz Aktionen wie dem „Movember“, bei der für einen Monat lang Schnurrbart-Tragen angesagt ist. Das Ziel der Bewegung: auf Themen der Männergesundheit aufmerksam machen.

Zum anderen gebe es bei der Depressionsdiagnose einen „Genderbias“, also eine Verzerrung der Wahrnehmung durch Geschlechtervorurteile: „Die Depressionsforschung wurde hauptsächlich anhand von weiblichen Probanden durchgeführt.“ Die so entstandenen Diagnosefragebögen sind eigentlich nicht auf Männer übertragbar. Denn: Häufiges Weinen und Grübeln, Selbstzweifel, Angstzustände – Symptome wie diese geben sie selten an, oft aus Scham, weil derartige Gefühle als typisch weiblich gelten. Trotz Erkrankung fallen also viele Männer durch das Diagnoseraster.

Um Depressionen bei Männern besser zu erkennen, reiche es aber nicht aus, das Diagnoseraster zu erweitern, erklärt Möller-Leimkühler. Depressionen und entsprechende Gefühle sollten gleichzeitig nicht mehr als Schwäche oder persönliches Versagen angesehen werden. Zudem müssten Männer lernen, einen besseren Zugang zu ihren Gefühlen zu bekommen und sich von der Vorstellung des starken Mannes zu lösen. „Denn: Je stärker sich ein Mann an diese Normen gebunden fühlt, desto eher fühlt er sich unmännlich, wenn er Probleme hat, diese zu erfüllen. Studien zeigen, dass dies mit einem höheren Depressionsrisiko einhergeht“, erklärt Möller-Leimkühler.

Die Depressionsforschung wurde hauptsächlich anhand von weiblichen Probanden durchgeführt
Anne Maria Möller-Leimkühler, Sozialwissenschaftlerin
Bei vielen Männern äußern sich Depressionen aber tatsächlich ganz anders. Anstatt traurig zu sein, zu grübeln und über den psychischen Stress zu sprechen, kompensieren sie ihn auf der Verhaltensebene. „Die Unterschiede bei den Symptomen basieren darauf, wie Männer mit emotionalen Konflikten umgehen“, erklärt Möller-Leimkühler. Sie hätten keinen unmittelbaren Draht zu ihren Gefühlen – was nicht nur hirnanatomische, sondern auch sozialisationsbedingte Gründe habe: „Jungen lernen schon früh, ihre Emotionen zu kontrollieren, was später dazu führen kann, dass die typischen und eher bei Frauen beobachteten Depressionssymptome verleugnet, verdrängt oder abgewehrt werden.“ Das allerdings kann Symptome wie Aggressionen, Süchte und antisoziales Verhalten auslösen.
Suizidalität hingegen ist ein Anzeichen, das bei beiden Geschlechtern auf eine Depression hinweist. Die Rate ist bei Männern jedoch dreimal so hoch wie bei Frauen. „Der Suizidversuch bei Frauen ist ein Hilfeschrei, Männer setzen ihr Vorhaben dagegen mit härteren Methoden gezielt um. Sie haben eine deutlich stärkere Selbsttötungsabsicht, denn wenn ihnen selbst das nicht gelingt, wäre es ja peinlich“, sagt Möller-Leimkühler.

Quelle: https://www.welt.de/icon/partnerschaft/article185449634/Wieso-werden-bei-Maennern-seltener-Depressionen-diagnostiziert.html