Montag, 22. Oktober 2018

Deutschland - Land der Depressiven


Einer EU-Statistik zufolge erkrankt hierzulande jeder Zehnte an einer Depression. Auch die Fehlzeiten in Unternehmen mit dieser Ursache sind drastisch gestiegen. Doch die Interpretation der Gründe ist nicht einfach.

Auf den ersten Blick malen die Zahlen, die Eurostat, die Statistikbehörde der EU, in dieser Woche veröffentlicht hat, ein düsteres Bild von Deutschland. Sie besagen, dass etwa einer von zehn Deutschen in jüngster Zeit unter einer chronischen Depression gelitten hat. Die Quote ist demnach doppelt so hoch wie in Italien oder Tschechien, und fast viermal so hoch wie in Rumänien.
Wie, fragt man sich, kann das sein?
Die Unterschiede seien kulturell bedingt, sagen die EU-Statistiker. Nordeuropäer hielten meist ihren Gesundheitszustand für schlechter als Südeuropäer. Zudem seien sie vielleicht besser aufgeklärt, was bedeute, dass die Zahl unerkannter Erkrankungen nicht so groß sei.
Die Zahlen malen ein krasses Zerrbild, sagen dagegen die Experten in Deutschland. Wie sie es sehen, erzählen die Eurostat-Zahlen die Geschichte einiger hart errungener Erfolge im Kampf gegen eine Krankheit, die für die Betroffenen ein persönliches Drama ist und für die Gesellschaft wie auch für Unternehmen längst zu einem großen Problem geworden ist.

Depressionen führen oft zu Arbeitslosigkeit

Anders als die Eurostatzahlen gehen gut gesicherte Erhebungen für Deutschland davon aus, dass hierzulande sogar jede vierte Frau und jeder achte Mann im Laufe des Lebens einmal an einer Depression erkrankt. Das bedeutet für sie eine um zehn Jahre verkürzte Lebenserwartung. Psychische Erkrankungen sind, nach Erkältungen, der häufigste Grund, warum Arbeitnehmer krankgeschrieben werden. In den vergangenen 18 Jahren hat sich die Zahl der Fehltage mit dieser Ursache fast verdoppelt.

Psychische Erkrankungen sind auch der Grund für fast jede zweite Frühverrentung in Deutschland. Depressionen führen dazu, dass Menschen arbeitslos werden und es oft lange bleiben. Das alles sind keine guten Nachrichten in einem Land, das seit Langem klagt, dass ihm in nahezu allen Wirtschaftszweigen dringend benötigte Fachkräfte fehlen.

Aber, so sagen es die Experten, in Deutschland können die Betroffenen inzwischen gute Hilfe bekommen, bessere als anderswo. Fälle wie der Suizid des früheren Fußballnationaltorwarts Robert Enke haben dazu geführt, dass Depression als das anerkannt wird, was sie ist: eine schwere Krankheit, die jeden treffen kann. Es gibt mehr Therapeuten als in anderen Ländern, und die gesetzliche Krankenversicherung finanziert die Behandlung. Es gibt Lohnfortzahlung und Krankengeldanspruch.

Stress ist selten der Auslöser für eine Depression

Auch Unternehmen verstehen allmählich, um was es geht. Aus den Daten der Krankenkassen geht jedenfalls hervor, dass sich im Gesundheitsmanagement der deutschen Wirtschaft einiges tut. Viele Firmen hätten erkannt, dass zur Gesundheitsförderung ihrer Mitarbeiter mehr gehört als rückengerechte Stühle.
All das bedeutet, dass es in Deutschland sehr wahrscheinlich weniger unentdeckte Erkrankungen gibt, weniger Stigmata und mehr Therapieangebote als in vielen anderen Ländern in Europa. Das sei die Wahrheit hinter den Zahlen der EU-Statistiker. So sagen es Ärzte, Therapeuten, Wissenschaftler, die Krankenkassen. Ulrich Hegerl, der Vorstandsvorsitzende der Stiftung Deutsche Depressionshilfe, etwa verweist auf Studien, die zeigten, „dass die Vorstellung, es würden heute mehr Menschen an Depressionen erkranken als früher – zum Beispiel wegen größerem Stress im Beruf, nicht stimmt“.
 
Früher sei die Krankheit nicht erkannt worden, also hätten die Menschen keine Hilfe bekommen. Dazu passt, dass die Zahl der Suizide, die auf Depressionen zurückzuführen ist, in den vergangenen Jahren offenbar abgenommen hat.

Die Grenzen zwischen Traurigkeit und Depression sind fließend

Dennoch gibt es einige hartnäckige Klischees. Zum Beispiel den Glauben, Arbeitslosigkeit sei der Grund für die Depression. Tatsächlich, so sagen Experten, sei es aber genau umgekehrt.

Zudem gibt es einige Unschärfen, die praktisch alle Statistiken durchziehen. Das gilt für die Eurostat-Daten wie für fast alle Erhebungen, die versuchen, die Verbreitung der Krankheit Depression zu vermessen. Die Grenzen zwischen lang anhaltender Traurigkeit, Burn-out und einer Depression sind mitunter fließend. Wer welche Diagnose bekommt, kann zum Beispiel davon abhängen, zu welchem Arzt oder Therapeuten er geht.
Die Techniker Krankenkasse beispielsweise sagt, dass jedes Jahr etwa einem von drei ihrer Versicherten eine psychische Störung diagnostiziert wird. Nicht alle müssten behandelt werden, nicht jeder ist arbeitsunfähig. Mal geht es um Menschen, die depressive Verstimmungen haben, die trauern, weil ihr Partner oder ein Angehöriger gestorben ist. Mal geht es aber auch um schwere Depressionen.

Quelle: https://www.welt.de/wirtschaft/article182415686/Depression-Darum-erkranken-so-viele-Deutsche-daran.html