Dienstag, 16. Oktober 2018

Depression ist keine Schwäche


5,3 Millionen Deutsche erkranken jährlich an einer Depression. Sven Ganter ist einer von ihnen, bereits dreimal war der 35-Jährige in Behandlung. Mittlerweile kann er mit der Krankheit leben – weil er gelernt hat, rechtzeitig die Reißleine zu ziehen.

Es ist ein ganz normaler Morgen. Sven Ganter hat sich von seiner Frau verabschiedet und wartet auf den Bus, der ihn zur Arbeit bringen soll. „Aber auf einmal habe ich angefangen zu heulen. Da wusste ich: Jetzt ist es wieder soweit.“ Es ist das zweite Mal, dass die Depression zuschlägt, das erste Mal wird er während seines Studiums in Marburg krank. Depressionen treten häufig in Episoden auf, zwischen Ganters erster und zweiter Depression liegen acht Jahre.
So richtig erklären, was mit ihm los ist, kann er damals noch nicht. „Jeder denkt bei Depression an Traurigkeit, aber es ist keine Trauer. Es ist eine Art Schwere. Man kann sich nicht konzentrieren, ist unfähig, auch nur Kleinigkeiten zu entscheiden.“ Welche Hose, welches Mittagessen, jede Wahl wird zum absoluten Kraftakt.

Die Gedanken kreisen

Dafür kreisen die Gedanken, Ganter grübelt beim Einschlafen und beim Aufwachen, bekommt Angst, dass auffliegt, dass er im Beruf ein Versager ist – obwohl er in dieser Zeit sogar befördert wird. „Das klingt jetzt total bekloppt, aber in so einer Phase werden diese Gedanken immer realer. Die Wahrnehmung verschiebt sich.“
„Typische Symptome“, sagt Christine Reif-Leonhard, Ärztin für Psychiatrie, Psychotherapie und Neurologie am Uniklinikum und Koordinatorin des Frankfurter Bündnisses gegen Depression. Das Gemeine an dieser Krankheit: Unbeteiligte glauben oft, dass es reichen würde, „sich mal zusammenzureißen“.

Doch Depression ist nicht einfach nur eine Schwäche, sondern eine Krankheit. „Sie entsteht, wenn genetische Veranlagung und belastende Faktoren zusammenkommen“, sagt Reif-Leonhard. Also ein Ungleichgewicht der Botenstoffe im Gehirn und traumatische Erfahrungen. Und sie wird schlimmer, je länger man sie nicht behandelt.
Doch Ganter findet keinen geeigneten Therapeuten, verkriecht sich im Bett. Irgendwann hat er keine Kraft mehr, überhaupt noch etwas zu tun. Seine Frau überzeugt ihn, sich Medikamente verschreiben zu lassen. Rund 20 verschiedene gibt es gegen Depression. „Weder verändern sie die Persönlichkeit noch sind sie Happy Pills“, sagt Reif-Leonhard. Stattdessen kappen sie die Stimmungsspitzen – nach unten und nach oben. „Wenn man schwer krank ist, ist man nicht in der Lage, Lösungsideen umzusetzen. Medikamente können die Grundlage für eine Therapie schaffen.“ Als die Medikamente wirken, beginnt Ganter mit einer tiefenpsychologischen Therapie. In 50 Sitzungen arbeitet er seine Kindheit auf und analysiert, welche Auswirkungen sie auf sein heutiges Leben hat. „Ich habe viel über mich gelernt, das war sehr spannend.“ Danach geht es Ganter besser, zwei Jahre hat er Ruhe.
Bis kurz hintereinander seine beiden Eltern und seine Frau krank werden. Die Eltern leben in Ostfriesland, seine Frau mit ihm in Frankfurt, er kümmert sich, arbeitet nebenher weiter in der Unternehmenskommunikation einer großen Bank. „Ich habe mich nicht mehr wochenlang im Bett verkrochen, aber ich war sehr erschöpft. Ich hatte nicht mehr die Kraft auch noch mich selbst rauszuziehen.“

Das Ziel: auf sich achten

Dieses Mal entscheidet sich Ganter für eine Verhaltenstherapie, bei der nicht die Vergangenheit, sondern Gegenwart und Zukunft im Fokus stehen. „Ich habe gelernt, mehr auf mich zu achten, meine Alarmsignale besser zu verstehen“, sagt er. Früher habe er sich immer um alles gekümmert, Eltern, Familie, Freunde, „nur nicht um mich selbst“. Mittlerweile versuche er, Dinge bewusster zu tun: „die Tasse Kaffee nicht reinstürzen sondern genießen, bei der Arbeit auch mal ,nein‘ sagen und um fünf gehen, wenn ich merke, dass ich das brauche“. Sein Chef habe ihm seine Unterstützung zugesagt. „Er ist ein feiner Typ.“
Ganter hat auch gelernt, rechtzeitig die Reißleine zu ziehen. Wenn er merkt – oder seine Frau ihm sagt – dass er sich von der Welt zurückzieht, steuert er gegen: Er meditiert, macht regelmäßig Ausdauersport oder trifft sich ganz bewusst mit Freunden. „Es ist mittlerweile bewiesen, dass die Methoden der Verhaltenstherapie bei Depression gut helfen“, sagt Ärztin Reif-Leonhard. „Viele Therapien verlaufen positiv.“
Sven Ganter nickt. „Ich muss akzeptieren: Wir zwei gehören jetzt zusammen. Es ist ein ständiger Kampf, aber wenn man von seinem Umfeld Unterstützung bekommt, kann man gut damit leben.“

Quelle: http://www.fnp.de/lokales/frankfurt/Depression-ist-keine-Schwaeche;art675,3136306

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