Sonntag, 28. April 2019

Höher, schneller, Burnout


Zahl der Krankentage bei psychischen Beschwerden binnen zehn Jahren mehr als verdoppelt. Linke und DGB werfen Bundesregierung Untätigkeit vor

Höher, schneller, besser – und davon immer mehr: Der Konkurrenzkampf am Arbeitsmarkt ist hart. Der Leistungsdruck wächst, und viele Lohnabhängige müssen sich immer stärker auch geistig und emotional in den Prozess einbringen. Das wirkt sich auf die Psyche aus. Überlastung, Depression, Burnout heißen die modernen Diagnosen. So verzeichneten die Krankenkassen 2017 mit 107 Millionen bereits mehr als doppelt so viele Krankentage aus diesen Gründen wie noch zehn Jahre zuvor (knapp 48 Millionen). Das geht aus einer Antwort der Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS) an die Fraktion Die Linke im Bundestag hervor, die jW vorliegt.
Damit sind seelische Probleme nach Muskel- und Skeletterkrankungen der zweithäufigste Grund für Arbeitsunfähigkeit. Am häufigsten davon betroffen sind den Daten zufolge ältere Beschäftigte. So fehlte jeder Mann zwischen 60 bis 64 Jahren 2008 im Schnitt 1,26 Tage pro Jahr wegen psychischer Probleme. Im Jahr 2017 waren dies bereits 4,34 Tage pro Jahr und Kopf. Bei Frauen dieser Altersgruppe stieg die Zahl der Krankentage pro Person im selben Zeitraum von 1,26 auf 2,9. Für die Frühverrentung sind seelische Erkrankungen sogar die häufigste Ursache. Im vorvergangenen Jahr betraf dies mit 71.300 Menschen rund 43 Prozent der vorzeitig wegen geminderter Erwerbsfähigkeit aus dem Beruf Ausgeschiedenen.
Auch branchenbezogen gibt es große Unterschiede. Das BMAS zitiert dazu aus Befragungen durch die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA). Danach befördern vor allem gravierender Termin- und Leistungsdruck, sehr hohes Arbeitstempo, besondere emotionale Anforderungen und häufige Unterbrechungen der Tätigkeit psychische Erkrankungen. Dem fühlten sich besonders Sozialarbeiter, Lehrer und Freiberufler im wissenschaftlichen und technischen Bereich ausgesetzt, gefolgt von Beschäftigten in der Gastronomie, der Versicherungsbranche, im Logistik- und Transportgewerbe sowie im IT-Bereich.

Diese Entwicklung wird auch für das Kapital zum Bumerang. In ihrem letzten Jahresbericht schätzte die BAuA die Kosten für dadurch bedingten Ausfall in der Produktion und der Bruttowertschöpfung auf insgesamt knapp 34 Milliarden Euro. Zehn Jahre zuvor lag diese Summe noch bei rund 12,4 Milliarden Euro. In diesem Zeitraum stieg auch der Anteil der durch psychische Probleme verursachten an allen krankheitsbedingten wirtschaftlichen Ausfallkosten von elf auf 16 Prozent.
Auf die Frage nach einem schriftlichen »Konsens« zwischen Politik, Arbeiter- und Unternehmensvertretern aus dem Jahr 2013 gab sich das BMAS reserviert. Es gebe noch Prüfbedarf, teilte es mit. Und: »Betriebliche Gehaltslösungen könnten eher zum Ausgleich von Anforderungen vorhandenen Ressourcen beitragen.« Damals hatten der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB), das BMAS und die Arbeitgeberverbände zwar ein »gemeinsames Grundverständnis von psychischer Belastung in der Arbeitswelt« bekundet. Letztere hatten allerdings eine vom DGB vorgeschlagene Antistressverordnung abgelehnt und sich lediglich bereit erklärt, mit den Kassen stärker zu kooperieren. Das verpflichtet sie jedoch zu nichts.
Die Linke-Abgeordnete Jutta Krellmann spricht sich ebenfalls für eine solche Verordnung und flächendeckende Arbeitsschutzkontrollen aus, da »Beschäftigte über ihre Belastungsgrenze getrieben« würden. Unternehmen setzten sie immer stärker unter Druck und forderten mehr Flexibilität. »Auch der ökonomische Schaden wird größer, und die Bundesregierung schaut Däumchen drehend zu«, kritisierte Krellmann. Konsequenzen forderte auch DGB-Vorstandsmitglied Annelie Buntenbach. Sie bezeichnete die Untätigkeit der Regierung als »Frechheit«. »Flexibilität, Arbeitsstress und Verdichtung als Risikofaktoren für psychische Erkrankungen befinden sich seit Jahren auf hohem Niveau, und dieses Problem wird sich nicht von selbst in Luft auflösen«, so Buntenbach.

Quelle: https://www.jungewelt.de/artikel/351861.h%C3%B6her-schneller-burnout.html

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